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TV-Kritik/Review: Großes Schauspielkino: Oscar-Regisseur bringt Cate Blanchett und Kevin Kline auf Kollisionskurs
(10.10.2024)
Der Rahmen passte, auch wenn eigentlich Kinowerke im Zentrum des Interesses standen: Apples neue Miniserie
Schon sehr früh wartet Serienschöpfer Cuarón, der außerdem alle sieben Folgen inszenierte, mit einer Lektüreanweisung für "Disclaimer" auf. Erzählungen und die Art und Weise, wie sie dargeboten werden, sind mit Vorsicht zu genießen. Wer eine Geschichte vorträgt, nutzt bestimmte Kniffe, um das Publikum in den Bann zu ziehen und womöglich sogar von der Wahrhaftigkeit der Schilderungen zu überzeugen. In Filmen, Serien und Romanen geht es immer auch um Manipulation, darum, die Aufmerksamkeit der Rezipienten optimal zu lenken, sie voll und ganz einzunehmen.
Tatsachen von Lügen zu unterscheiden, die Spielarten der Beeinflussung aufzudecken - dieser Aufgabe widmet sich die Enthüllungsjournalistin Catherine Ravenscroft (Blanchett), die in der ersten Folge bei einer Preisverleihung mit lobenden Worten überschüttet wird. Ihre strahlende, ja ein bisschen glamouröse Welt kontrastiert mit dem grauen Alltag von Stephen Brigstocke (Kline), dessen müdes Gesicht unvermittelt auf die letzte Einstellung des Galaabends folgt. Einst war er ein engagierter und beliebter Lehrer. Längst sind jedoch nur noch Trauer und Resignation die Konstanten seines Lebens.
Rund um diese beiden so gegensätzlichen Figuren entblättert "Disclaimer" eine Handlung, die sich größtenteils auf zwei Ebenen abspielt. Zum einen ist da ein viele Jahre zurückliegender Italienurlaub, mit dem die Serie einsteigt. Die britischen Teenager Jonathan (Louis Partridge) und Sasha (Liv Hill) vergnügen sich auf der Zugfahrt nach Venedig ungeniert beim Sex und taumeln wenig später glücksbeseelt durch die Straßen der Lagunenstadt. Irgendwann erreicht Sasha ein Anruf aus der Heimat, der sie umgehend aufbrechen lässt. Jonathan hingegen bleibt in Italien und trifft auf die junge Catherine Ravenscroft (Leila George), die nach der berufsbedingten Abreise ihres Gatten mit ihrem kleinen Sohn Nicholas die restliche Ferienzeit genießen will.
Auffällig sind an diesem Erzählstrang vor allem zwei Dinge: Eingeleitet und beendet wird er stets durch eine sogenannte Kreisblende, die vor allem in alten Stummfilmen Verwendung fand. Bei diesem Stilmittel erweitert sich das Bild langsam kreisförmig bzw. wird kreisförmig bis ins Schwarze verengt. Zudem erstrahlen die Italiensequenzen in verführerischen lichtdurchfluteten Aufnahmen und warmen Farben. Regelrecht überinszeniert wirkt das Geschehen vor allem ab dem Moment, wo Jonathan Catherine begegnet. Dass die Serie hier ins Kitschig-Reißerische abdriftet, mag angesichts eines Könners wie Cuarón verwundern. Mit der Zeit erschließt sich allerdings, warum der Mexikaner genau diese Gestaltung gewählt hat. Form und Inhalt - siehe oben - folgen einem bestimmten Zweck. Und wichtig ist vor allem, aus wessen Perspektive die Erlebnisse beschrieben werden.In der seriellen Gegenwart plant Stephen Brigstocke Jahre nach dem Krebstod seiner Frau Nancy (Lesley Manville), das Leben der erfolgsverwöhnten Catherine Ravenscroft zu zerstören. Warum? Weil er sie für den Tod seines Sohnes, jenes Jonathan aus dem Italienstrang, verantwortlich macht. Seine Waffe ist der Roman "The Perfect Stranger", den er im Selbstverlag unter Pseudonym veröffentlicht. Die Journalistin und ihr direktes Umfeld - Ehemann Robert (Sacha Baron Cohen), der inzwischen erwachsene gewordene Nicholas (Kodi Smit-McPhee) und die Kollegen - bekommen nach und nach das Buch zugespielt, in dem sich Catherine als Hauptfigur wiederfindet. Geschockt darüber, dass ein wohlgehütetes Geheimnis aus ihrer Vergangenheit publik wird, versucht sie, die Kontrolle zu behalten und den als Urheber schnell identifizierten Brigstocke zur Räson zu bringen.
Bereits in der Auftaktepisode setzt Alfonso Cuarón die Rachegeschichte aufs Gleis. Allzu große Spannung entfaltet die Serie in den ersten Kapiteln aber noch nicht, was auch daran liegt, dass man als Zuschauer ein wenig Ordnung in die verschiedenen Plot-Fäden bringen muss. Brigstockes Frustration, seine Verzweiflung und seine unter der Oberfläche brodelnde Wut arbeitet "Disclaimer" gut heraus und erschafft einen eher ungewöhnlichen Stalker, dessen traurige Vorgeschichte sich in gelegentlichen Rückblenden offenbart. Wie sich seine Gattin nach dem Tod des Sohnes von ihm entfremdet, wie ihr schmuckloses Reihenhaus zusehends verwahrlost - das geht durchaus an die Nieren und weckt Mitleid.
Mutieren Rächer in Film und Fernsehen oft sehr schnell zu wild um sich schlagenden, karikaturesken Gestalten, haben wir es hier mit einem anderen Exemplar zu tun. Der frühere Lehrer, der häufig Nancys rosafarbenen Cardigan trägt, überstürzt nichts, geht mit einer gewissen Nüchternheit zu Werke. Mehr und mehr bricht aber auch seine diebische Freude über das Gelingen seiner Intrigen aus ihm heraus. Eine komplexe Figur, die Kevin Kline wunderbar nuanciert zum Leben erweckt. In einem Moment kehrt der US-Darsteller glaubhaft den schusseligen, gebrechlichen alten Mann heraus. Dann wieder zeichnen sich in seinem Gesicht eine beunruhigende Entschlossenheit und Härte ab. Wahrlich großes Kino! Da ist es gar nicht mal so schlimm, dass die Serie Brigstockes Ecken und Kanten auf den letzten Metern ein bisschen abschleift.
Einen präzisen Blick beweist Cuarón auch für die familiären Dynamiken und Spannungen im Hause Ravenscroft, deren Upper-Class-Dasein schon vor Brigstocks Winkelzügen nicht sorgenfrei war. Nicholas tut sich schwer, seinen Platz im Leben zu finden. Catherine fehlt der Zugang zu ihm. Und bei Robert blitzt ein antiquiertes Verständnis der Geschlechterrollen auf. Er möchte der starke Mann sein, den seine Frau begehrt. Der plötzlich auftauchende Roman und die Fragen, die damit einhergehen, bringen das Gefüge langsam zum Einsturz - sehr zur Freude des Strippenziehers, der sich manchmal selbst wundert, wie geschmiert ein Rädchen ins andere greift.
Kodi Smit-McPhee (
Gerade weil die darstellerischen Leistungen so eindringlich sind, erstaunt es, dass Cuarón exzessiv Gebrauch von Voice-over-Kommentaren macht. Eine Erzählerin (in der englischen Originalfassung: Indira Varma) und Stephen Brigstocke selbst geben uns regelmäßig Einblick in die Gedankenwelt der Figuren und versorgen uns mit zusätzlichen Informationen zu ihren Hintergründen. Gut möglich, dass dies ein Verweis auf die literarische Herkunft des Stoffes sein soll. Wenn sich andauernd Erklärungen über die Bilder legen, wirkt das aber auch arg bequem und etwas einfallslos.
Deutlich gelungener dagegen: Wie die Serie jene Misogynie freilegt, die noch immer viele Bereiche unserer Gesellschaft durchzieht. Werden Frauen nicht viel mehr bewertet als Männer? Hat man sie nicht viel schneller in eine Schublade gesteckt? Vor allem, wenn es um die Mutterrolle geht? Und warum müssen Frauen oft Angst haben, mit traumatischen Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen? "Disclaimer" kratzt an unschönen Wahrheiten und führt uns vor Augen, wie leichtfertig wir uns manchmal Meinungen bilden, wie bereitwillig wir an ein Narrativ glauben wollen. Die Augen offen halten, Geschichten hinterfragen, andere Blickwinkel einnehmen - dazu fordert uns "Disclaimer" auf. Gerade heute kann das sicherlich nicht schaden.
Dieser Text basiert auf der Sichtung aller sieben Folgen der Miniserie "Disclaimer".
Die ersten beiden Folgen der Miniserie "Disclaimer" sind ab dem 11. Oktober bei Apple TV+ verfügbar. Die dritte und die vierte Episode erscheinen am 18. Oktober. Die restlichen drei Kapitel werden dann im wöchenlichen Rhythmus veröffentlicht.
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